Wie wir Verantwortung behalten – KI als Kartograf, nicht als Pilot 

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Einleitung: Kein Ratgeber, sondern ein Denkrahmen

Die Karte ist nicht das Gelände. Karten helfen, Orientierung zu gewinnen, doch den Weg wählen wir selbst. Künstliche Intelligenz kann uns solche Karten liefern: Sie strukturiert Daten, macht Muster sichtbar, zeigt Zusammenhänge. Doch wenn wir beginnen, die Entscheidung selbst an die Maschine zu delegieren, stehen wir an einer Schwelle: Wir riskieren, Verantwortung aus der Hand zu geben, ohne es zu merken.

Dieser Artikel versteht sich als Denkrahmen, nicht als Ratgeber. Er will keinen Masterplan liefern, sondern Impulse eröffnen – mit Bildern, Fragen und Beispielen, die helfen können, eigene Antworten zu entwickeln. Er verknüpft Vergangenheit (Kant und seine Warnung vor der selbstverschuldeten Unmündigkeit), Gegenwart (die aktuelle Gefahr, Verantwortung an Maschinen abzugeben) und Zukunft (deren Gestalt wir noch nicht kennen, für die wir aber heute Prinzipien formulieren können).

1. Vergangenheit: Kant und die Warnung vor der Unmündigkeit

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ – Immanuel Kant

Mit diesem Satz hat Kant 1784 in seiner Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? ein Fundament gelegt. Der Gedanke: Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sie ist „selbstverschuldet“, wenn nicht am Mangel des Verstandes, sondern an der Bequemlichkeit und Feigheit liegt, sich der Leitung eines anderen zu bedienen.

Kants Diagnose zielte auf seine Zeit: auf Autoritäten, die dem Einzelnen das Denken abnahmen, sei es Kirche oder Fürstenstaat. Er appellierte, den Mut zu fassen, den eigenen Verstand zu gebrauchen.

Doch was Kant damals für Institutionen beschrieb, lässt sich heute erstaunlich leicht auf Technologien übertragen. Fremdbestimmung kann sichtbar sein – durch Diktatur oder Autorität. Sie kann aber auch unsichtbar werden – wenn wir Verantwortung Stück für Stück an Technik delegieren, ohne es zu merken.

Damit sind wir in der Gegenwart.

2. Gegenwart: Werkzeug oder Agent?

Das zentrale Spannungsfeld lautet: Nutzen wir KI als Werkzeug – oder machen wir sie zum Agenten?

  • Werkzeug: Ein Hammer, eine Taschenlampe, eine Karte. Werkzeuge unterstützen, verstärken, erweitern. Aber die Entscheidung, wie sie eingesetzt werden, liegt beim Menschen.
  • Agent: Ein Akteur, der an unserer Stelle handelt und entscheidet. Hier geben wir Verantwortung ab, manchmal bewusst, oft unbewusst.

Genau an diesem Übergang bewegen wir uns.

KI im Alltag: Von der Karte zum Piloten

Junge Menschen – aber nicht nur sie – nutzen KI heute oft so, dass die Maschine Entscheidungen vorgibt. In der Revue de la Presse (Nr. 7 | Juli 2025 | Hauptseite, “L´IA, une amie qui vous du bien?” von Hamdam Mostafavi) wurde kürzlich beschrieben, wie Studierende Chatbots für psychologische Fragen nutzen, für Lebensentscheidungen, für Beziehungsratschläge.

Das Problem: Diese Ratschläge werden selten hinterfragt – weil die Logik der Maschine nicht durchschaubar ist.

Was dabei geschieht, ist eine stille Fremdbestimmung. Sie ist umso gefährlicher, weil sie freiwillig geschieht. Man denkt, man bedient „nur ein Tool“ – tatsächlich aber übernimmt ein System die Rolle des Ratgebers, ja des Entscheiders. Das Ergebnis: Entmündigung.

HR im Spannungsfeld

Für HR ist dieses Spannungsfeld hoch relevant. KI-Systeme helfen längst beim Recruiting, beim Screening von Bewerbungen, bei HR-Analytics oder Learning-Angeboten. Sie können Suchprozesse verkürzen, Zusammenhänge sichtbar machen, Wiederauffindbarkeit ermöglichen.

Doch die entscheidende Grenze lautet: Finden statt Entscheiden.
Eine KI darf Strukturen kartografieren, Daten durchsuchen, Korrelationen berechnen. Aber sie darf nicht entscheiden, wer eingestellt wird, welche Führungskraft versagt oder wie eine Karriere zu verlaufen hat.

Oder anders gesagt: KI als Kartograf, nicht als Pilot.

3. Zukunft: Ein Denkrahmen für verantwortungsvolle Nutzung

Wir wissen nicht, wie die Zukunft der KI aussieht. Aber wir können heute Prinzipien entwerfen, die uns helfen, handlungsfähig zu bleiben.

Ein mögliches Leitprinzip lautet: Automatisieren fürs Finden – nicht fürs Entscheiden.

Daraus lassen sich fünf praktische Orientierungen ableiten:

1. Ebenenwechsel üben

Orientierung: Wechseln Sie bewusst zwischen Baumkrone und Lupe. Sehen Sie das große Ganze (Kontext, Muster) und das Detail (Zahl, Fakt). Entscheiden Sie nie zweimal hintereinander aus derselben Ebene.

HR-Hack:
Eine HR-Leitung schaut in die Fluktuationszahlen (Detail). Sie sieht, dass im Vertrieb die Quote besonders hoch ist. Statt sofort Maßnahmen zu beschließen, geht sie „in die Baumkrone“: Welche Entwicklungen am Markt, in der Unternehmenskultur oder in der Führung tragen dazu bei? Umgekehrt: Bei einer Kulturumfrage („Baumkrone“) ist es hilfreich, anschließend wieder in die „Lupe“ zu gehen und einzelne Teams zu betrachten.

Hinweis:
Nicht jede Führungskraft kann beides gleichermaßen leisten – und das ist kein Defizit. Es lohnt sich, bewusst Experten-Duos zu bilden: Menschen, die von Natur aus komplex, vernetzt und systemisch denken, und andere, die linear und detailorientiert arbeiten. Entscheidend ist, diese Unterschiede zu wertschätzen und nicht gegeneinander aufzuwiegen. So entsteht die nötige Balance.

2. Minimum an viabler Bürokratie

Orientierung: Bauen Sie nur so viel Struktur, wie unbedingt nötig. Jede Regel sollte ein Ablaufdatum haben und in einem Satz begründet werden können.

HR-Hack:
Ein Unternehmen führt ein neues Weiterbildungsbudget ein. Statt einen 20-seitigen Prozess zu schreiben, beschließt HR: Jede Führungskraft darf Weiterbildungsmaßnahmen bis 1.500 Euro genehmigen – Regel gültig für ein Jahr, danach Überprüfung. So entsteht Handlungsfähigkeit statt Überregulierung.

3. Transparenz vor Perfektion

Orientierung: Perfekte Systeme sind Illusion. Was zählt, ist die Nachvollziehbarkeit: Warum ist dieses System da? Wie funktioniert es? Wer kann es nutzen?

HR-Hack:
Ein Recruiting-Algorithmus bewertet Bewerbungen nach Schlagworten. Perfektion wäre unmöglich, weil Bias nie ganz eliminiert werden kann. Aber Transparenz ist machbar: HR erklärt Bewerber:innen, welche Kriterien in das Scoring einfließen, und Führungskräften, wie die Vorauswahl zustande kommt. Das erhöht Vertrauen – und reduziert falsche Erwartungen.

4. Protokoll der Ungewissheit

Orientierung: Nicht-Wissen ist kein Makel, sondern eine Ressource. Halten Sie Annahmen explizit fest, versehen Sie sie mit Datum und legen Sie Revisionspunkte fest.

HR-Hack:
Ein Unternehmen will Homeoffice-Regeln einführen. Statt sofort eine „fertige Policy“ zu verabschieden, schreibt HR: „Wir gehen davon aus, dass drei Tage Homeoffice pro Woche funktionieren (Stand: Mai 2025). Wir überprüfen das im Oktober anhand von Produktivität, Zufriedenheit und IT-Supportfällen.“ Damit wird klar: Das ist eine Annahme, kein Dogma.

5. KI als Kartograf, nicht als Pilot

Orientierung: Nutzen Sie KI für Indexierung, Suche, Mustererkennung. Sehen Sie sie als Kartografen, der Karten liefert. Aber der Weg, die Entscheidung, das Ziel: das bleibt menschlich.

HR-Hack:
Ein KI-Tool durchsucht interne Mitarbeitergespräche (nach Freigabe) und identifiziert wiederkehrende Themen wie „Karrierepfade unklar“ oder „Workload zu hoch“. Diese Erkenntnisse sind Karten – sie zeigen, wo sich Muster häufen. Aber die Entscheidung, welche Maßnahmen daraus folgen (z. B. Jobarchitektur überarbeiten, Führungskräfte schulen), trifft HR mit den Führungskräften.

Impulsfragen für die Praxis

  • Was lasse ich von KI finden – und was entscheide ich selbst?
  • Welche Entscheidungen dürfen niemals delegiert werden?
  • Wo muss die Logik der Maschine für alle sichtbar sein?
  • Wann notiere ich bewusst: „Hier wissen wir es (noch) nicht“?
  • Wie halte ich mein Team entscheidungsfähig?

Verantwortung bleibt beim Menschen

Wir stehen heute in einem Spannungsfeld, das uns Kant bereits vorgezeichnet hat: zwischen Mut zur Mündigkeit und Bequemlichkeit der Fremdbestimmung.

Die Technik selbst ist weder gut noch böse. Sie ist Karte, nicht Gelände. Sie kann helfen, Strukturen sichtbar zu machen. Aber ob wir sie als Werkzeug nutzen oder ihr die Rolle des Agenten zuschreiben – das ist unsere Entscheidung.

Eine Karte kann Orientierung geben. Doch den Weg wählen, das bleibt unsere Aufgabe.

Literaturhinweise

Autor / WerkJahr / EditionBemerkung
Immanuel Kant – Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?1784 (Essay, Berlinische Monatsschrift)Grundtext der Aufklärung; „selbstverschuldete Unmündigkeit“
Yuval Noah Harari – Nexus. Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz2024, Penguin Verlag (dt. 1.Ausgabe)Informationsnetzwerke als Motor der Geschichte
Yuval Noah Harari – Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit2013 (dt. Ausgabe Pantheon Verlag)Große Entwicklungslinien der Menschheit
Hermann Hesse – Das Leben bestehen. Krisis und Wandlung. Zusammengestellt von Volker Michels Motiv auf der Umschlagseit nach einem Aquarell von Hermann Hesse © 2000 by Heiner Hesse, Arcegno, Ausgabe von 1986
Revue de la Presse (Nr. 7 | Juli 2025 | Hauptseite, “LÌA, une amie qui vous du bien?” von Hamdam Mostafavi
2002, SuhrkampEssays zur Krise als Wandlungs- und Reifungsprozess

>> Die Fotos wurden mit Lovart.ai erstellt.<<

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Astrid Göschel M.A.

Seit 20 Jahren unterstütze ich Unternehmen und Unternehmer*innen dabei, ihre Ziele auf direktem Weg und gemeinsam mit allen Beteiligten zu erreichen. Heute bin ich in der Lage, eine Komplett-Lösung anzubieten, mit der meine Kund*innen gemeinsam mit mir systematisch den Weg vom Start- zum Zielpunkt gehen – messbar, nachvollziehbar und stets erfolgreich.

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